Mittwoch, 9. Juli 2014

Murielle

Seit meiner Kindheit liefern mir Begegnungen in der Öffentlichkeit Inspiration für meine gedanklichen Schöpfungen. Anonymes Aufeinandertreffen fasziniert mich. Diese inoffiziellen Begegnungen verleiten mich zu grundverschiedenen Thesen. Für meine Hauptdarsteller erfinde ich verschiedene Lebenssituationen, surreal beobachtend und wortlos prüfend. Hey, vielleicht sind du und ich uns so, in meinen Interpretationen bereits einmal begegnet…

Eine Französin lebt im Süden und macht Urlaub im Norden. Sie ist eine der Protagonistinnen meiner Frankreich Ferien. Sie trägt eine hellblaue mit Blumen verzierte Sommerbluse. Der verwaschene Jeansjupe reicht ihr bis zu den Knien. Sandaletten zieren ihre zartgliedrigen kleinen Füsse. Ein schlichter Ring mit Steinchen schmückt ihren Finger, dazu glitzern passende Perlenohrringe und eine dezente Halskette in der Hitze. Vertieft ins gedämpfte Gespräch mit ihrem Partner setzen sie sich an den gegenüberliegenden Bistrotisch des Dorfrestaurants. Ihr Blick wandert. Sie bestellen purpurroten Cranberrysaft. Dieser leuchtet ein wenig transparent in der Nachmittagssonne. Diese elfenhafte Person lauscht den sympathischen Strassenmusikanten. Gelegentlich bewegt sie sich im Rhythmus der Melodie und erfreut sich über das samstägliche Markttreiben.

Sie wirkt ausgeruht. Ihr Verstand ist scharfsinnig etwas distanziert. Arme und Beine sind braungebrannt. Blonde Bob-Frisur, schmallippig, spitzes Kinn und intelligente ozeanblaue glänzende Augen. Wegen ihrem melancholischen Blick bleibe ich an ihr haften. Wie heisst sie, Murielle oder Patricia? Meine fiktiven Gedanken schlagen Purzelbäume anhand meiner Musterungen. Das starke Verlangen alles von dieser Frau zu erfahren, erfasst jede Faser meines Körpers. Besucht sie regelmässig dieses Lokal? Ist sie eine loyale Freundin? In welcher Beziehung steht sie zu ihrem Begleiter? Ist er ihr Ehemann, Lebensabschnittpartner oder Sommerflirt? Hat sie Kinder? Wieso verströmen ihre Augen den Ausdruck einer masslosen Traurigkeit? Ist kürzlich ihre Mutter an Krebs gestorben? Murielle ist schlank und sportlich, wenn sie von ihrem Fruchtsaft trinkt das Glas mit der Hand zu ihren Strichlippen führt, erkenne ich durchtrainierte Oberarme. Besucht sie regelmässig das Fitnessstudio? Ist sie Anwältin?

Sie bemerkt, dass ich sie beobachte. Anfangs zaghaft und schüchtern später antwortet sie standhaft mit einem geheimnisvollen Schmunzeln auf meine Inspizierung. Um ihre Mundwinkel bilden sich Grübchen. Dann wieder wegschauend und der Musik zugewannt, geniesst sie das Sein. Der Flüchtigkeit trotzend, nicht in Gedanken gleich weiterreisend, bestimmt ist sie angekommen. Nur an einen Ort, zur selben Zeit zu sein und diesen mit allen Sinnen wahrnehmen, um diesen Augenblick zu teilen. Seine Schönheit, Hässlichkeit, Einzigartigkeit, Traurigkeit, sich überwältigen lassen ohne Furcht. Die Kunst zu sein, wo man ist…

Unvorbereitet ertönen niedliche Kinderstimmen im Mikrofon. Es ist mehr ein Plappern als Gesang. Murielles kühle und unscheinbare äussere Erscheinung ist plötzlich wie von der Meeresbrise verweht. Die Augen werden feucht und gläsern, ihr Teint glänzt. Ihre Gestalt und blitzartige Empfindungsänderung hin zu Sanftmut, Güte und Warmherzigkeit fesseln mich. Erneut treffen sich unsere Blicke. Wir kommunizieren wortlos miteinander. Ihre Bekümmertheit versucht sie wegzulächeln. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen und trösten. Ich beginne zu begreifen die Knirpse, die Kinderlieder jodeln, berühren Murielle stark. Sie muss ungewollt eine Schicksalsgenossin der Kinderlosen sein. Ich schliesse die Augen, weiche ihr somit aus und horche der Musik. Als ich wieder blinzle, äussert sie sich mir gegenüber stillschweigend mit einem kaum lesbaren Nicken. Ohne Erklärung hat sie mir einen Einblick in ihre intimsten Gefühle gewährt.

Paulchen holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Er hat sein Bier getrunken und ist bereit für die Markteinkäufe. Wir bezahlen und schlendern gemütlich davon. Nach 3 Schritten drehe ich mich nochmals zu Murielle um und flüstere ihr ein "Adieu" zu. Sie lächelt und erwidert ein "Au revoir". Innerlich wünsche ich ihr schöne Ferien. Wünsche ihr, dass sie die Hoffnung nicht aufgibt. Wünsche ihr herzhafte Lachen. Wünsche ihr, dass sich ihr Herz stählt und nicht bricht wegen fortwährenden Rückschlägen. Und ich wünsche mir, dass wir uns irgendwann wieder einmal gegenüber sitzen.

Mariechen zurück aus den Ferien :o)


2 Kommentare:

Wünsch dir was hat gesagt…

Eine starke Geschichte...ich glaube wir begegnen nur all zu oft unseren Schicksalsgenossinen. Würden wir einander in die Augen sehen, würden wir es bemerken...

Ute hat gesagt…

Hi